Herwarth Walden und der Sturm

Ein internationales Symposium über die Revue und die Galerie Der Sturm, das am 14. und 15. Oktober 2010 in Berlin stattgefunden hat, bietet den Anlass, diese beiden Unternehmungen und ihren Urheber einer größeren Öffentlichkeit vorzustellen. Die von Herwarth Walden (eigentlich Georg Lewin) gestiftete und herausgegebene Zeitschrift zählte zu den wichtigsten Organen der deutschen, künstlerischen Avantgarde. Auf ihren Seiten wurden die besten Werke jener Maler und Schriftsteller publiziert, die wir heute als die berühmtesten Vertreter des Expressionismus kennen. Der Sturm setzte sich für eine internationale Erneuerung ein, und sein Inhalt war stark intermedial geprägt. In diesem Sinne führte er die Tradition der Sezessionszeitschriften weiter. Die mit Walden befreundeten Künstler gehörten jedoch schon einer neuen Generation an, darunter der österreichische Maler Oskar Kokoschka, die Leitfigur der ersten Jahrgänge des Sturms, auf dessen Seiten nicht nur seine Zeichnungen abgedruckt wurden, sondern auch das bekannte Drama Der Mörder, Hoffnung der Frauen. Für Kokoschka verkörperte Der Sturm einen Aufbruch in der Kunst und er verglich sogar das Berlin dieser Zeit mit Athen im Zeitalter von Perikles. Obwohl wir heute seine Aussage für übertrieben halten, da wir wissen, das die schmeichelhafte Bezeichnung eher zum Paris der Jahrhundertwende passen würde, war Berlin eines der wichtigsten Zentren der Avantgarde in Mitteleuropa. Der Sturm entstand auf der Basis der lebendigen Unruhe, die Berlin schon am Ende des 19. Jahrhunderts zum Zentrum des Kunstmarktes machte, etwa durch Persönlichkeiten wie den Direktoren der Nationalgalerie Wilhelm von Bode oder Hugo von Tschudi. Den kaiserlichen Traditionen widerstand und der Konkurenzkampf der jungen Generation, die Waldens Zeitschrift und die später gegründete Galerie als ein willkommenes Versuchsfeld nutzten.

Herwarth Walden stammte aus einer gebildeten Familie russischer Juden und er studierte zuerst Musik in Florenz. Später wandte sich sein Interesse eher zur Literatur und er wurde zu einem Mitarbeiter des Nietsche-Archivs. Im Alter von 32 Jahren begründete er die Zeitschrift Der Sturm, deren erste Nummer 1910 erschien. Zu einem großen Vorbild wurde die von Karl Kraus in Wien herausgegebene Zeitschrift Die Fackel. Mit der Gründung der Galerie im Jahre 1912 erweiterte sich Waldens Tätigkeit; er erschienen Bilderbücher und Postkarten mit Bildern Kandinskys, Klees und anderer Künstler. Die Bezeichnung Der Sturm wurde von Else Laske-Schüler erfunden und sollte die dynamische Vermarktung und neue künstlerische Sprache spiegeln, die der Leser der Zeitschrift in allen Gattungen erleben konnte: Literatur, Theater, Musik, Architektur und Kunst vermischten sich auf ihren Seiten. Im Jahr 1918 wurde die Sturmbühne begründet. Die bildenden Künste wurden durch alle denkbaren Strömungen vertreten: Fauvismus, Orphismus und Kubismus wurden in dieser Zeit durch den alles umfassenden Begriff des Expressionismus bezeichnet. Der Sturm stellte in den Augen von Kurt Schwitters einen Ansatz der ästhetischen Autonomie und der antimimetischen Strömungen in der Kunst vor. Der Architekt Adolf Behne sah im Jahr 1915 im Sturm eine allgemeine Neuorientierung des Denkens und Schaffens. Die Künstler des Blauen Reiters fanden ebenfalls schnell ihren Weg zu Walden. Als Kandinskys Ausstellung in Hamburg im Jahr 1913 eine Verdammung erfuhr, hat der wichtige Haagener Kunstsammler Karl Ernst Osthaus sein Schaffen gerade auf den Seiten des Sturms unterstützt. Als Franz Marc die Münchener Moderne Galerie von Heinrich Tannhäuser, in welcher 1913 die große Picasso Ausstellung stattgefunden hatte, verurteilte, blieb den Künstlern des Neuen Reiters noch immer die Ausstellungmöglichkeit im Rahmen des von Herwarth Walden organisierten Ersten Deutschen Herbstsalon. Die Ausstellung gehörte zu den größten kulturellen Ereignissen des Jahres. Ihr Konkurrent war die von Paul Cassirer organisierte Austellung der Neuen Sezession. Nach der Ausstellung der italienischen Futuristen im Jahr 1912 in Waldens Galerie Potsdamer Straße 122, die aufgrund des Einkaufes von 24 der 32 ausgestellten Werke durch den Berliner Bankier Dr. Borchhardt ein Erfolg wurde, stellte der Herbstsalon ein riesiges Unternehmen vor, das 23 Künstler und 365 Werke umfasste. Der Deutsche Herbstsalon hatte den in Paris im Jahr 1903 begründeten Salon d´Automne und die im Jahr 1912 in Köln von Osthaus organisierte Sonderbundausstellung als Vorbild.

Im Jahre 1913 wurde von Walden eine Ausstellung von Alexander Archipenko organisiert. August Macke hat bei der Gelegenheit eine Sizze der Skuptur Kuss gezeichnet, die ein Zeugnis der Auseinandersetzung der deutschen Künstler mit dem ukrainischen Bildhauer bildet, Im folgendem Jahr 1914 hatte Marc Chagall in Berlin seine erste Einzelausstellung. Der Ausbruch des ersten Weltkrieges führte zum Zusammenbruch der Netzwerke, aber trotzdem bestand weiter eine Nachfrage nach französischer Kunst, die durch die Wirtschaftsblüte im Jahr 1917 einen Auftrieb erhielt. Waldens Zeitschrift war übernational und antipolitisch, der Krieg wurde auf ihren Seiten nicht kommentiert. Die utopische Vorstellung Waldens, dass sich die Kunst außerhalb der Politik befindet, könnte man durch seinen kosmopolitischen Ursprung erklären. Auch während des Krieges wurden Ausstellungen des Sturm organisiert, wie in Brün 1916 oder in Kopenhagen im Jahre 1918. Waldens Unternehmen sollte zwar profitorientiert sein, erwies sich aber oft eher als ein geschäftsmäßiges Desaster, wie im Fall der futuristischen Künstler, die für ihre Bilder nie das versprochene Geld bekommen haben. Im Bundesarchiv Koblenz befinden sich noch heute zahlreiche Briefe, die von den wichtigen Persönlichkeiten der Zeit an Walden geschrieben wurden, darunter Gustav Mahler oder Rainer Maria Rilke. Der Sturm und ide Unternehmen von Herwarth Walden orientierten sich eher an gegenstandloser Kunst und wurden damit zu einem Gegensatz zur figurativen Freien Sezession. Unter Kunstwende verstand Walden eine Musikalität, Rythmik und kosmisches Geschehen, dass einen Ausdruck nach dem Ende des ersten Weltkriegs auch in de Novembergruppe fand. Schon im Jahr 1913 wurden auf den Seiten des Sturm Texte von Robert Delaunay abgedruckt, die Klee übersetzte und die durch die Philosophie Henri Bergsons geprägt wurden. Der bergsonische "élan vital" durchdrang die starre Materie und stand für den Vorrang der Intuition von dem Verstand. Die Schöpfende Kräfte von Bergson (ins deutsche Übersetzt 1912) übten einen essentiellen Einfluss auf den Maler Wenzel Hablik in seiner Reihe der Radierung aus, und auch August Macke stand unter einem merkwürdigen Einfluss von Bergson. Sine Vortellung der Farbe als ein raumbildendes Element und als Ausdruck der Einheit des kosmischen Geschehens fand in dem theosophischem Zugang Kandinskys eher einen Gegenpol. Paul Klees Schaffen wurde dagegen ebenfalls von Bergsons Denkweise stark geprägt, wenn er das Bild als eine stillgesetzte Bewegung bezeichnete. Er war der Meinung, dass das Auge selbst eine Dynamik der Komposition ergibt, wie wir er in zahlreichen Aquarellen finden können, etwa in der Rythmik der Fenster und Tannen aus dem Jahre 1919. Nach Klees Ansicht macht die Kunst Unsichtbares sichtbar, eine Einstellung, der Herwarth Walden sicher zustimmen konnte. Der Einfluss der italienischen Futuristen ist auch in der Büste Waldens aus dem Jahr 1917 gut sichtbar, bei welcher der Bildhauer William Wauer die dynamik der bekannten Skulptur der Urformen von Bewegung im Raum aus dem Jahr 1913 übernahm. Der Gegensatz der runden, organischen, qualligen und der spitzen Formen, der schon seit Alois Riegl ein dauerhaftes Thema der Kunstgeschichte war, wollte von Bergson auch untersucht werden und wurde von Oswald Herzog im Aquarell Die Freude (1921) festgehalten. Der ukrainische Bildhauer Archipenko übte wieder einen großen Einfluss auf die Kunst von Rudolf Belling aus, der an der Ausstellung der Novembergruppe teilgenommen hat. Nach dem Kriegsende wurde diese Gruppe zum Zentrum der linken künstlerischen Avantgarde. Im Anonymitätsanspruch der Künstler stand die Gruppe den russischen Konstruktivisten nahe, im Gegensatz zum Sturm, obwohl in der Zeitschrift auch ein Werk Lazlo Moholy-Nagy veröffentlicht wurde. Herwarth Walden war jedoch der Meinung, Politik ist nicht Kunst und dass man diese zwei Bereiche nicht vermischen sollte. Der Verhältnis von Walden zu den italienischen Futuristen ist durch die erhaltene Korrespondenz gut dokumentiert. Am 12. 4. 1912 wurde die berühmte Ausstellung von Umberto Boccioni in Berlin eröffnet. Die Futuristen fuhren durch die Stadt und warfen Zettel mit dem Manifest in die Straßen. Im folgendem Jahr wurden Ausstellungen von Soffici und Severini eröffnet. Die Zusammenarbeit war jedoch kurz und seit dem Jahr 1913 wurden die Kontakte seltener, weil sich die Futuristen mit der Konkurenz des Kubismus in Paris auseinandersetzen mussten.

Was die Verhältnisse zu den slawischen Ländern angeht, wurde erwähnt, dass Walden eine "mystische romantische russische Stimmung" in sich trug, aber dass er sich trotzdem als ein Westeuropäer fühlte. Schon im Ersten Deutschen Herbstsalon waren die tschechische Künstler stark vertreten, wie zum Beispiel Pavel Janák oder Bohumil Kubišta. Auch auf den Seiten des Sturm fanden sie eine wichtige Präsentationsfläche und es wurden dort Bilder von Vincenc Beneš oder Otakar Kubin abgebildet. Der Sturm wurde sogar zu einem Vorbild für die polnische Zeitschrift Der Block. Das Berliner Symposium bot also vielfältige Informationen, blieb aber vielfach zu algemein. Zu einer komplexen Bewertung der Unternehmungen von Walden wäre es wohl sinnvoll gewesen, sich auf einzelne Detailbereiche zu beschränken und stärker in die Tiefe zu gehen.  

Mitteilungen der Gesellschaft für vergleichende Kunstforschung in Wien, Februar 2011